Warum dieser Satz verständlich – aber nicht alternativlos ist. Und wie Mitarbeiterentwicklung im Alltag gelingen kann.
Der Klassiker unter den Führungssätzen: „Ich habe keine Zeit für Mitarbeiterentwicklung.“ Dieser Satz fällt nicht nur häufig in Führungskräftetrainings, sondern oft auch mit einem spürbaren Gefühl von Frustration und schlechtem Gewissen. Führungskräfte wissen meist sehr genau, dass Mitarbeiterentwicklung wichtig ist – aber in der Realität kämpfen sie mit einer Überlastung durch operative Anforderungen, kurzfristige Zielerreichung und zahlreiche Schnittstellen.
Die Forderung nach einer stärkenorientierten, sinnhaften, individuellen Entwicklung jedes Teammitglieds klingt auf dem Papier gut – doch in der Praxis bleibt dafür oft kaum Luft.
Und trotzdem: Gerade in einer Arbeitswelt im Wandel, in der Fachkräftemangel, digitale Transformation und Generationenwechsel die Regel sind, wird Mitarbeiterentwicklung zur strategischen Führungsaufgabe. Sie zu vertagen, weil der Kalender voll ist, kommt einem strukturellen Risiko gleich.
In der Diskussion mit Führungskräften aus den unterschiedlichsten Abteilungen – zeigt sich ein wiederkehrendes Muster:
Die Top-3-Herausforderungen bei der Mitarbeiterentwicklung aus Sicht der Führungskräfte:
- Zeitmangel & operative Überlastung
Tagesgeschäft geht vor. Entwicklungsgespräche oder Reflexionen fallen oft unter den Tisch. - Fehlende Struktur & klare Entwicklungswege
Führungskräfte wünschen sich oft mehr Orientierung: Welche Maßnahmen sind geeignet? Wie dokumentieren? Was ist individuell sinnvoll? - Unterschiedliche Voraussetzungen im Team
Teams sind divers – in Alter, Motivation, Wissen und Haltung. Daraus ergeben sich sehr verschiedene Entwicklungsbedarfe, die schwer unter einen Hut zu bringen sind.
Zudem berichten viele, dass klassische Jahresgespräche als formell und wenig dynamisch empfunden werden. Oft dienen sie eher der Dokumentation als der wirklichen Entwicklung.
Der Perspektivwechsel: Entwicklung als Alltag und Dialog
Was also tun? Die Lösung liegt nicht in weiteren Formalisierungen, sondern in einem Perspektivwechsel: Mitarbeiterentwicklung muss nicht zusätzlich geschehen – sie kann integriert geschehen.
Entwicklung beginnt nicht im Protokoll – sondern im Dialog.
Wenn man Entwicklung nicht als Jahresereignis, sondern als Teil täglicher Interaktion versteht, entstehen neue Spielräume:
- Jede Rückmeldung wird zur Entwicklungsmaßnahme.
- Jedes Projekt kann ein Lernraum sein.
- Jede Frage kann Reflexion anregen.
Ein Jour Fixe ohne feste Agenda kann Raum bieten für Austausch über Ziele, Unsicherheiten, Ideen.
Eine Rückfrage im Gang – „Was hast du aus dem Projekt letzte Woche gelernt?“ – kann mehr bewirken als ein 60-minütiges Meeting.
Die Forschung unterstützt diesen alltagsnahen Ansatz. Laut Deci und Ryan (1985)1 – die Entwickler der Selbstbestimmungstheorie – fördert Entwicklung dann Motivation und Bindung, wenn drei Grundbedürfnisse erfüllt sind:
- Autonomie (Gestaltungsspielraum)
- Kompetenz (Wachstum)
- soziale Eingebundenheit (Wertschätzung)
Kurze, individuelle Gespräche im Alltag – z. B. nach Projektphasen oder Erfolgen – fördern genau diese Bedürfnisse (Gagné & Deci, 20052).
Studien zeigen auch, dass 70% des beruflichen Lernens nicht in Seminaren stattfindet, sondern „on the job“ – durch Herausforderungen, Feedback, Beobachtung (Tannenbaum et al., 20123).
Der Arbeitsplatz ist der bedeutendste Lernort in modernen Organisationen – wenn er richtig gestaltet ist.
Tannenbaum et al., 2010
Praktische Umsetzung: 10 Fragen für den Führungsalltag
Hier sind zehn konkrete Fragen, die Mitarbeiterentwicklung in jeder Woche möglich machen – ohne formelle Prozesse:
- „Was möchtest du in diesem Quartal lernen?“
- „Was war dein persönliches Highlight diese Woche?“
- „Wobei brauchst du mehr Unterstützung?“
- „Was hast du ausprobiert, das gut funktioniert hat?“
- „Welche Aufgabe fordert dich gerade besonders heraus?“
- „Woran möchtest du wachsen?“
- „Was interessiert dich gerade über deinen aktuellen Job hinaus?“
- „Welche Aufgabe würdest du gerne einmal übernehmen?“
- „Was macht dir aktuell am meisten Spaß?“
- „Worauf bist du gerade stolz?“
Diese Fragen brauchen keine Stunde – aber sie setzen Energie frei.
Natürlich ersetzt der Alltag nicht die Notwendigkeit einer gewissen Systematik. Aber statt komplizierter Kompetenzraster oder Bewertungskategorien können bereits einfache Maßnahmen helfen:
- Kurze Reflexion im 1:1 alle vier Wochen
- Lernziele als Teil der Teamziele
- Feedbackkultur: nicht bewerten, sondern gemeinsam lernen
- Nutzung bestehender Tools (z. B. kurze E-Learning-Impulse)
- Mentoring durch erfahrene Kolleg:innen im Projekt
Die wohl wichtigste Erkenntnis: Mitarbeiterentwicklung gelingt dort am besten, wo Menschen sich sicher fühlen, ihre Gedanken, Wünsche und Fehler zu äußern.
Psychologische Sicherheit ist ein zentraler Treiber für Lernkultur, Innovationsfähigkeit und nachhaltige Entwicklung.
Edmondson, 1999
Führungskräfte sind hier Vorbilder: Wie offen gehen sie mit eigener Unsicherheit um? Wie reagieren sie auf Fehler? Wie konsequent leben sie Feedback?
Fazit: Entwicklung als tägliche Entscheidung
Mitarbeiterentwicklung ist keine Frage der Zeit, sondern der Haltung.
Es braucht keine neuen Programme – sondern Führungskräfte, die bereit sind, im Alltag zuzuhören, Feedback zu geben und Entwicklung zu ermöglichen.
„Entwicklung ist kein Sprint – sondern ein Dialog. Kein Tool – sondern eine Beziehung.“
Literatur:
1 Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1985). Intrinsic motivation and self-determination in human behavior. New York: Plenum.
2 Gagné, M., & Deci, E. L. (2005). Self-determination theory and work motivation. Journal of Organizational Behavior, 26(4), 331–362. https://doi.org/10.1002/job.322
3 Tannenbaum, S. I., Mathieu, J. E., Salas, E., & Cohen, D. (2012). Developing team members: The missing link in team training. Human Resource Management Review, 22(4), 576–589.
4 Edmondson, A. (1999). Psychological safety and learning behavior in work teams. Administrative Science Quarterly, 44(2), 350–383. https://doi.org/10.2307/2666999

Prof. Dr. Katrin Winkler