Seit der breiten Verfügbarkeit generativer KI-Systeme wie ChatGPT wird intensiv diskutiert, wie sich deren Nutzung auf Lernprozesse auswirkt. Die MIT-Studie „The Brains of AI Writers“ versucht erstmals, diese Frage mit Hilfe von Neurowissenschaften zu beantworten. Mithilfe von EEG-Messungen untersuchte das Team die Hirnaktivitäten von Studierenden beim Verfassen von Texten – mit und ohne KI. Der Befund: Die KI-Nutzer zeigten signifikant geringere Hirnaktivitäten und produzierten zunehmend generische Texte. Aber ist es wirklich so einfach? Eine kritische Reflexion der MIT-Studie zu KI-gestütztem Schreiben ist elementar wichtig.
KI als Lernhilfe – oder Lernbremse?
Was zunächst wie ein Schlag gegen den KI-Einsatz im Bildungsbereich wirkt, verlangt bei näherem Hinsehen eine differenzierte Betrachtung – auch im Lichte didaktischer und ethischer Fragestellungen.

Prof. Dr. Sandra Niedermeier
Prof. Dr. Sandra Niedermeier ist eine der führenden Expertinnen für KI in der Lehre in Deutschland. Sie arbeitet seit Jahren kritisch mit dem Thema künstliche Intelligenz und betont immer wieder, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Medium wichtig ist.
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Methodischer Überblick: Was wurde untersucht?
Insgesamt 54 Studierende wurden vier Monate lang beobachtet. Sie schrieben jeweils drei Essays in einer von drei Bedingungen:
Gruppe 1: Schreiben mit ChatGPT,
Gruppe 2: Schreiben mit Google-Suche,
Gruppe 3: Schreiben ohne digitale Hilfsmittel.
In einer optionalen vierten Sitzung (n=18) wurden die Bedingungen gewechselt: Gruppe 1 schrieb ohne KI, die anderen mit ChatGPT. Zentral war die Messung der Hirnaktivität mittels EEG in 32 Regionen während aller Aufgaben.
Ergebnisse im Überblick:
- Deutlich geringere Gehirnaktivität in der ChatGPT-Gruppe.
- Zunehmend generische Texte, starker Rückgriff auf Copy-Paste.
- Geringeres Textverständnis und schlechtere Erinnerungsleistung bei den KI-Nutzenden.
- Höhere Eigenverantwortung, Zufriedenheit und Aktivität bei den Gruppen ohne KI.
Überraschend: Bei gezielter Optimierung mit KI (Sitzung 4) zeigten alle Gruppen hohe Hirnaktivität – auch die, die zuvor ohne KI gearbeitet hatten.
Kritische Reflexion an der MIT-Studie: Zwischen Hype, Verantwortung und Didaktik
Die Ergebnisse dieser Studie müssen mit einem strengen kritischen Auge betrachtet werden.
1. Die Grenzen der Neurowissenschaft
Die Studie liefert spannende Impulse, doch die Aussagekraft ist begrenzt. Das Sample ist klein (n=54, später n=18), die EEG-Messung ist störanfällig, und es handelt sich um eine Preprint-Veröffentlichung – also noch ohne Peer Review. Zudem bleibt offen, welche kognitiven Prozesse genau gemessen wurden: Ist weniger Aktivität wirklich ein Beleg für „Denkfaulheit“ – oder einfach effizienteres Arbeiten?
2. Künstliche Intelligenz ist nicht das Problem
Die Studie bestätigt, was auch psychologisch-didaktische Forschung betont: KI macht weder klüger noch dümmer. Sie verstärkt lediglich vorhandene Muster – Passivität ebenso wie Neugier. Wer KI nutzt, ohne darüber nachzudenken, produziert seelenlose Texte. Wer sie reflektiert einsetzt, kann tiefere Einsichten gewinnen. In der Studie war zu beobachten, dass KI besonders dann sinnvoll aktiviert wurde, wenn sie zur Optimierung bestehender Entwürfe diente – nicht zum sofortigen Generieren.
Diese Ergebnisse decken sich mit jenen von Bauer, Greiff, Graesser, Scheiter und Sailer (2024), die in “Looking Beyond the Hype” den Fokus auf den „didaktisch eingebetteten KI-Einsatz“ legen. Die Technologie sei Werkzeug – keine Lehrkraft.
3. „Ownership“ als didaktischer Schlüssel
Ein zentrales Problem: Die ChatGPT-Gruppe konnte sich kaum an ihre eigenen Texte erinnern. Das spricht für ein mangelndes „Ownership“ – die zentrale Übernahme von Verantwortung für die eigenen Gedanken. Dieses Phänomen ist besonders relevant für die Bildungspraxis:
Wer lediglich KI-Output übernimmt, ohne sich damit aktiv auseinanderzusetzen, verliert langfristig die Fähigkeit zu kritischem Denken, Reflexion und Kreativität.
Hier zeigt sich die Relevanz von Lehr-Lern-Designs, die auf Wechselwirkung setzen: Phasen mit KI (z. B. Brainstorming, Korrektur) und ohne KI (z. B. Strukturierung, Selbstreflexion). Die Maxime lautet: Erst denken, dann prompten.
Ausblick: Pädagogik First – nicht Tool First
Die MIT-Studie liefert keine Argumente gegen KI im Bildungsbereich, sondern gegen deren unreflektierte Nutzung. Lehrende wie Lernende stehen in der Pflicht, die Verantwortung für den Denkprozess nicht an Maschinen zu delegieren. Oder, wie Nele Hirsch pointiert warnt: „Sei kein Bot-Papagei.“
Für eine zukunftsorientierte Bildung bedeutet das:
- KI-Einsatz muss kontextualisiert und didaktisch begleitet werden.
- Studierende sollten lernen, zwischen Textproduktion und Textverantwortung zu unterscheiden.
- Kritisches Denken, Kreativität und Metareflexion müssen explizit gefördert werden – auch durch KI.
Fazit
Die MIT-Studie gibt Anlass zur Sorge – aber auch zur Hoffnung. Sie zeigt, dass Lernen mit KI nur dann gelingt, wenn wir Pädagogik vor Technologie stellen. Künstliche Intelligenz ist ein mächtiger Spiegel: Sie reflektiert, wie ernst wir Bildung wirklich nehmen. Wer Denken outsourct, verliert. Wer KI als Sparringspartner nutzt, gewinnt.
Unabhängig von Schlagzeilen und Social-Media-Hype ist eine kritische Reflexion von Studien allgemein und der MIT-Studie zum Thema KI-gestütztes Schreiben eminent.